Copyright © 2023
Erscheinungsjahr: 2023
Herausgeber: U. Hentschel / Zschiesche GmbH
Satz: Maika Hallmann
Titel-Foto: igiaviation – mourgefile.com
Druck: Zschiesche GmbH

Wodka-Kauf mit DSF-Ausweis

Last-Minute-Reisen sind partout keine Erfindung der Neuzeit. Bereits Jugendtourist, das Reisebüro für DDR-Jugendliche, hatte Derartiges im Angebot. Das hatte ich erstmals auch genutzt und gleich eine „zurück gegebene Kombi-Reise“ ergattert. Sie war sogar zu einem verminderten Preis zu haben. Es ging in Richtung Kaukasus. Eine Woche Ski-Urlaub und eine Woche Baden im Schwarzen Meer. Für 680 Mark, also Ostmark, ein regelrechtes Schnäppchen. Dieser Urlaub verlief mehr oder weniger ohne größere Aufreger. Erwähnenswert sei vielleicht ein Ausflug per Hubschrauber ins Hochgebirge. Bereits der Anblick des von der Armee aussortierten und für die zivile Nutzung eher spartanisch umgebauten Mi-6 ließ Zweifel aufkommen, ob er es überhaupt in die Luft, an unser Ziel und wieder zurückschaffen würde. Überall sagte der Rost offensichtlich „Guten Tag“. Diese Skepsis wurde im Innenraum nicht besser, erst recht nicht nach dem Anwerfen der beiden Gasturbinentriebwerke und den sich zu drehen beginnenden Rotoren. Der Flug kam der Fahrt auf einer Buckelpiste gleich. Aber es ging alles gut – war eben etwas abenteuerlich, eben russisch.

Davon, also vom Kaukasus und dem Schwarzen Meer, durchaus begeistert, versuchte ich es das Jahr darauf erneut, ein derartiges Schnäppchen, eine Storno-Reise, zu ergattern. Es klappte. Erneut ging es Richtung Kaukasus. Genauer ins georgische Schwarzmeer-Seebad Kobuleti inklusive einiger Tagesausflüge.

Der 14-Tage-Urlaub wurde einer mit den wohl skurrilsten Erlebnissen. Ganz am Ende sogar mit einem Déjà-vu – einer Episode, die man denkt, in gleicher Weise schon einmal erlebt zu haben. Besser konnte ein Déjà-vécu nicht zutreffen, was so viel heißt, wieschon mal tatsächlich erlebt.


Das Intourist-Hotel „Kolcheti“ lag unmittelbar am langgestreckten Feinkieselstrand. Nur getrennt durch den dazugehörigen kleinen etwa drei Meter breiten Rasen, den ihn, eher symbolisch wirkenden, etwa fünfzig Zentimeter hohen begrenzenden Zaun und einer sich anschließenden schmalen Promenade. Das Zimmer befand sich im vierzehnten von insgesamt siebzehn Etagen. Tolle Location, denn im Siebzehnten befand sich die Nachtbar samt Disko. Der Eckbalkon des Zimmers bot einen atemberaubenden Blick entlang des Strandes, hinaus aufs Meer und abends in die untergehende Sonne. Allmorgendlich gab’s sogar ein hauseigenes „Frühstücksradio“ in russischer, französischer, englischer und deutscher Sprache. Der deutsche Sprecher verabschiedete sich nach internationaler Wunschmusik, Ausflugstipps und Wettervorhersage von seinen Zuhörern stets mit dem Satz: „Auch heute wieder alles palletti im schönen Kobuleti“. Der hatte anscheinend anderes Essen als wir. Nicht nur, dass es stets mit zu viel Speiseöl versehen war. Ab Tag vier konnte nicht nur ich keinen Reis mehr sehen. Und: Es brauchte etwas Ordentliches zum Runterspülen anstelle des Chai, dem Tee in allen, nur nicht schmeckenden Varianten.

Im Mix mit Cleverness und dem in Russland so beliebten Haustrunk – dem Wodka – folgte ein Erlebnis, das an Aufregung und Kuriosem eben nur in diesem Zeitfenster so passieren konnte.

Wie beschrieben befand sich im obersten Stockwerk unseres Hotels eine Bar mit Disko. Alkoholische Getränke, egal ob pur oder als Mixgetränk, waren in der Hotelbar teuer. Insbesondere für Touristen aus dem Ostblock. Selbst ein Wodka-Cola kam umgerechnet fast acht „Alu-Chips“. Aber, der Ossi – erst recht, wenn er gedient hatte – war schon immer einfallsreich, auch findiger, was das Beschaffen von Schnabus betraf. Dabei hatten die DDR-Touris im Sowjetreich einen großen Vorteil. Sie waren mehr oder weniger der russischen Sprache mächtig. Zumindest in Brocken, die aus sechs oder acht Jahren Russischunterricht in der Schule noch hängen geblieben waren. Und schon das Bemühen, sich russisch verständigen zu wollen, kam im Reich vom damaligen Parteiboss Gorbatschow gut an.

Apropos Gorbatschow, dem De-facto-Herrscher der Sowjetunion. Der hatte bereits zu Beginn seiner Amtszeit einschneidende Restriktionen für den Verkauf von Wodka gestartet. Am 5. Mai 1985 veröffentlichten sämtliche sowjetischen Zeitungen den Beschluss des ZK der KPdSU Über die Maßnahmen zur Überwindung der Trunksucht und des Alkoholismus. Darin wurde festgelegt: Ab dem 1. Juni ist der Verkauf alkoholischer Getränke nur noch zwischen 14 und 19 Uhr gestattet und an Wochenenden sogar komplett verboten. Zudem wurden tausende Weinstöcke vernichtet, eine große Zahl an Destillerien und Brauereien sowie fast zwei Drittel aller Verkaufsstellen, die mit Alkohol gehandelt hatten, geschlossen. Das gesetzliche Mindestalter für Alkoholkonsum erhöhte sich von 18 auf 21 Jahre. Die Höchstverkaufsmenge an Wodka pro Person war auf einen Liter minimiert. Wurde jemand betrunken von der Polizei aufgegriffen, musste er mit einer empfindlichen Geldstrafe oder gar fünfzehn Tagen Haft rechnen. Trotzdem: Viele Männer verließen während der Arbeitszeit ihren Arbeitsplatz, um vor den wenigen noch geöffneten und Alkohol verkaufenden Geschäften Schlange zu stehen. Verkauf und Kauf des „russischen Lebenselixiers“ wurde seitens der Polizei kontrolliert. Sie war mit Maschinenpistolen ausgerüstet vor den Geschäften präsent, auch um Tumulte zu verhindern.

Gorbatschow wurde für diese Maßnahme von der Bevölkerung als „Genosse Mineralsekretär“ verspottet.

Wow, das war für den mit seiner berüchtigten Trinkkultur verwöhnten DDRler, der gerne und regelmäßig Bier, Wein oder auch Hart-Alk zu sich nahm, starker Tobak. Und auch wenn die Sachsen eher die Biertrinker waren, galt auch für sie: „Schöntrinkt die DDR sich jeder Bürger mit ‘ner Flasche Blauer Würger“, dem „Kristall-Wodka“ unter anderem aus Meerane.

Wie also unter genannten Vorzeichen an Wodka kommen?

Wie es sich herausstellte, hatte Reiner, ein Mitglied unserer Reisegruppe einen Russisch-Intensiv-Kurs an der Arbeiter-und-Bauern-Fakultät in Halle absolviert und in Leningrad zwei Semester Elektrotechnik studiert. Damit war klar, wer unser Dolmetscher ist.

Das „unser“ bezieht sich auf „unser Quartett“. Vier fesche junge Männer. Alle zufälligerweise aus einem Umkreis von zwanzig Kilometern stammend. Gesucht und gefunden unternahmen wir, Bernd – mein „zugeloster Zimmergenosse“ –, Stefan und Reiner in den kommenden Tagen fast alles zusammen. Und die beiden „Russland-Reise-Spezies“ Bernd und Stefan, für die es die vierte beziehungsweise fünfte SU-Reise war, brachten ihre Erfahrung ein, niemals ohne DSF-Mitgliedsbuch zu reisen. Warum auch immer mich wer oder was geritten hatte. Vor der Abreise hatte ich doch tatsächlich mein DSF-Mitgliedsbuch eingesteckt. Irgendwo im Hinterkopf kam dabei der Gedanke, möglicherweise an einer Stelle damit trumpfen, vielleicht einen Rabatt aushandeln zu können. DSF-Buch am Mann marschierten wir also los. Die drei und ich bildeten fortan ein tolles Quartett. Nicht unweit von unserem Hotel und in unmittelbarer Nähe einer Art städtischem Park mit zahlreichen bunt gekachelten Wasserspielen war auf der angrenzenden Straße Tumult zu verzeichnen. Es war kurz nach 14 Uhr. Das in Sichtweite befindliche продуктовый магазин (Lebensmittelgeschäft) befand sich in regelrechter Belagerung, gesichert durch etwa zehn Uniformierte. Reiner, Bernd und Stefan gingen voraus. Ich schlich als Nachhut knapp dahinter Richtung Eingang.

Die vier Uniformierten registrierten wohl anhand unserer Kleidung – wir hatten alle Jeanshosen und augenscheinlich in Russland nicht im normalen Sortiment zu erwerbende T-Shirts an –, dass wir keine Einheimischen waren. Trotzdem hielt uns einer seine MP entgegen und sagte mit bestimmenden Worten, wir sollten nicht näherkommen. Doch Reiner brach sofort den Bann.

„Привет! Здравствуйте! Товарищ!“ (Privjet! Sdrastwujtje tovarisch! – Hallo! Guten Tag Genosse!) Danach reichte mein Russisch nicht mehr, um dem Gespräch folgen zu können. Bernd und Stefan zückten ihre DSF-Bücher und ergänzten mit der einen oder anderen Vokabel die Unterhaltung. Die MP war längst nicht mehr auf uns gerichtet. Ein Lächeln machte sich auf den Gesichtern der Polizisten breit. Sie unterbrachen den Ansturm der anstehenden Männer. Denn „deutsche Freunde“ mussten willkommen geheißen werden. Wie Bernd später uns drei erzählte, sprach der ranghöchste Polizist von „ausgezeichneten DDR-Bürgern, deren Treue und Liebe zur UdSSR mit einer Reise ausgezeichnet worden sei.“ Wir seien von der Reiseleitung geschickt worden, um für unsere Reisegruppe etwas Wodka und Sekt zu kaufen. Denn am Abend komme eine Komsomolzen-Gruppe. Da brauche man doch zum Anstoßen auch etwas Zünftiges.

Was für ein Schmarrn! Aber es schien Wirkung zu hinterlassen. Die Polizisten schienen regelrecht begeistert und gewährten sofort Einlass ins Geschäft, gleich ganz vorn in der „Schnaps-Ansteh-Reihe“. Wir also alle vier rein in die Butike. Zwei weitere Polizisten standen zur Kontrolle an der Ausgabe des begehrten Hochprozentigen. Dort lagen Listen aus. Darauf waren die Namen und Adressen der Familien samt aller Mitglieder notiert. So wurde kontrolliert, dass nicht einer mehr als diesen einen Liter pro Woche heimste. Wir standen natürlich auf keiner dieser Listen. Aber der Uniformierte mit zwei Streifen und drei Sternchen auf den Schulterstücken – wohl der Ranghöchste der Polizisten – erläuterte die Lage. Nicht nur das. Er befahl der Verkäuferin, uns pro Nase je eine 0,5-L-Flasche Wodka ohne Bezahlung auszuhändigen. Bernd erläuterte dem Offizier, dass vier Flaschen für insgesamt etwa dreißig zu erwartenden dürstenden Kehlen nur ein Tropfen auf einem heißen Stein sein dürften. Wir zogen unsere Rubelscheine aus den Taschen und Bernd bat, weitere vier Flaschen kaufen zu dürfen. Wir zückten unsere Geldbörsen, um zu zeigen, dass wir liquide seien. Nach einem kritischen Blick zog der „Vor-Ort-Polizei-Chef“ Reiner in aller Eile – damit wohl niemand seine private Bereicherung mitbekomme – einen 5-Rubel- und zwei 3-Rubel-Scheine aus dessen Portemonnaie, drückte hernach jedem von uns noch eine Flasche des vierzigprozentigen Wässerchens vor die Brust, steckte mir und Stefan je noch zwei in unsere Jackentaschen, meinte energisch mit aufgerissenen Augen: „Hо этого пока достаточно! (No etogo poka dostatochno! – So, das reicht jetzt aber!) und geleitete uns zur Tür. Unterm Strich hatte er ja auch Recht: Wir hatten sechzehn Rubel mehr oder weniger investiert und sind mit zwölf Flaschen mit einem Gesamtwert von rund fünfzig Rubel „bedient“ worden.

Was für ein Geniestreich!

Doch der größere Clou kam, nachdem wir Wodka bewaffnet den Laden verließen. Inzwischen hatte es sich unter der wartenden Kundschaft herumgesprochen: Da nehmen uns Deutsche den uns zustehenden Wodka weg! Denn ehe wir uns versahen, wurden wir von einigen Koljas und Aljoschas attackiert, erfolgte ein Angriff auf unsere Wodka-Flaschen. Einer der draußen postierten Polizisten gab sofort mit seiner MP einige Schüsse in die Luft ab. Der ranghohe Polizist rief: „До свидания! Давай! Давай! (Do swidanja! Dawai! Dawai! – Auf wiedersehen! Schnell! Schnell!) Wir „deutschen Alkohol-Diebe“ suchten daraufhin schleunigst in der Hoffnung das Weite, nicht verfolgt zu werden. Die Warnschüsse hatten anscheinend ausreichend Wirkung hinterlassen. Niemand war uns gefolgt. Bernd hatte inzwischen zwei zur Trage-Verstärkung ineinander gesteckte konsument-Papier-Tüten mit unserem „Beutezug-Resultaten“ gefüllt, sodass niemand Einheimischer noch auf unserem Weg ins Hotel zu irgendwelchen dummen Aktionen animiert werden konnte. Jedoch sahen wir auf dem Weg zurück ins Hotel die eine oder andere Wodka-Leiche. Sie lehnten oder lagen an Hauswänden oder in den Gebüschen im Park. Daneben lagen geleerte Wodkaflaschen. Die Sucht der Russen war offenbar derart groß, dass sie sich einen Teil der zugewiesenen Ration gleich „in den Hals gesteckt“ hatten und – somit der Arbeit oder der Familie fernbleibend – ihren Rausch ausschliefen.

Übrigens: Sekt war im Verkauf weder limitiert oder verboten. Also heimsten wir für die angedachte Bowle jeder gleich noch vier Flaschen mit ein. Krimskoye Schampanskoje für unglaublich umgerechnete drei Mark fünfzig. Da wir so schon wie die Packesel aussahen, hatten die Mattkas hinter dem Tresen auch entsprechend stabile Plastetüten parat.
Was für ein Schnäppchen!

Und noch ein weiteres Schnäppchen ergab sich aus dem Wodka-Kauf.

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Kapitel

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Notgroschen, -durft und -unterkunft

Wie geplant, wollten wir auch in diesem Jahr auf der Heimreise noch einmal in Prag „einreiten“. Auch diesmal legten wir nach dem Rennwochenende in Brno einen Zwischenstopp auf einem abgelegenen Campingplatz an einem kleinen Stausee ein. Damit entzogen wir uns dem großen Rückreise-Tumult. Vor allem aber dem Ansturm in den Prager Gaststätten, vor allem dem U Fleků, das die meisten Ost-Touristen auf ihrem Reiseplan hatten.

Fernab der Autobahn kauften wir vier Hühnchen, frisches Brot, Zwiebeln, Bier und derlei zum Grillen. Zudem war Resteessen angesagt. Nach einem langen Abend gönnten wir uns am Montag eine ordentliche Mütze Schlaf, planschten im Stausee, brachten Ordnung in unser Gefährt, machten Kurzwäsche einiger T-Shirts und sortierten uns für die tschechische Landeshauptstadt.

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