Copyright © 2023
Erscheinungsjahr: 2023
Herausgeber: U. Hentschel / Zschiesche GmbH
Satz: Maika Hallmann
Titel-Foto: igiaviation – mourgefile.com
Druck: Zschiesche GmbH

Wenn kein Vogel mehr fliegt oder piept

Dieser Schwarzmeer-Trip hatte außerdem etwas derart Besonderes, das in der fernen Heimat nur Aufmerksamkeit am Rande erregte. Kobuleti selbst, das ob seiner kleineren Bedeutung in den Nachrichten nicht genannte wurde, machte dem bekannteren Batumi Platz. Es lieferte eine Schlagzeile, die, weil weit weg, für kurze Bestürzung sorgte.

Aber der Reihe nach.

Einer der im Reisepreis bereits mitgebuchten Tagesausflüge ging, nein: sollte von Kobuleti aus aufs Schwarze Meer hinaus nach Ureki und zurück gehen. Die Schwarzmeerküste Georgiens zeichnet sich durch die Nähe von Strand und Bergen aus. Zum Teil reichen die Steilhänge des Großen Kaukasus bis an die Küste. Die Strände galten bereits zu Sowjetzeiten als russische Riviera. Auch wenn sie überwiegend aus Schotter oder Kies bestehen. Anders in Ureki. Dort gibt es schwarzen Sand, der einzigartig ist. Er ist eisenhaltig, magnetisch und heiß und wird deshalb auch „Magnetiti“ genannt. Es sollte also ein Badeausflug besonderer Art werden – was er ja auch wurde.

Unmittelbar bei unserem Hotel „U Moria“ befand sich ein Landesteg. Kleinere bis mittelgroße Passagierschiffe hatten dort die Möglichkeit zum Anlegen. Ablegen für uns war für zehn Uhr vorgesehen. Der Tag begann eher bedeckt. Von Sonne und späterem Badevergnügen konnte also mit Blick gen Himmel erst mal nicht die Rede sein. Untypisch russisch hieß es pünktlich Leinen los. Unser gedrungen kurzes und klobig wirkendes Schiff, also sichtlich robuster als ein Flusskreuzfahrtschiff, hatte auf dem Oberdeck keine Sitzplätze. Unter Deck waren alle Plätze bereits belegt. Zumindest deshalb, weil sich zu viele Gäste zu breit gemacht hatten, ganz selbstverständlich Zusatzplatz in Anspruch nahmen. Denn neben Kopftuch tragenden Matkas und alten runzligen Männern war Hühnergegacker und Gänsegeschnatter zu vernehmen, standen zig käfige auf den sitzen und in den Gängen. Anscheinend fuhr unser Schiff im georgischen Schwarzmeer-Linien-Verkehr. Also blieben die Ausflügler, etwa fünfundzwanzig aus den beiden westsächsischen und hallensischen Reisegruppen, oben an Deck – schnupperten die frische Seeluft. Das Schiff hatte kaum abgelegt, war etwa fünf- bis sechshundert Meter vom Ufer entfernt, wurde der Wellengang stärker. Mehr und mehr kamen immer größere Wellen auf. Die ersten Fahrgäste des Oberdecks waren bereits in den Passagierraum geflüchtet. Andere suchten festen Griff an der Reling, um dem Frühstück Lebewohl zu sagen. Sie hatten keinen Blick dafür, dass sich das Wasser irgendwie zu kräuseln schien, sich hier und da kleine Trichter abzeichneten, sich wo anders grün-gelbliche Blasen ergaben, die größer wurden und dann zerplatzten. Ein fürchterlicher Gestank machte sich daraufhin breit. Längst hatte sich der Himmel zugezogen und wollte wohl jeden Augenblick in die Farbe Schwarz übergehen. Derweil hatte der Kapitän des Schiffs irgendwas auf Russisch durch die Lautsprecher verkündet. Lina, unsere Reiseleiterin, hatte sich tapfer aufs Oberdeck gequält, um uns klar machen zu wollen, dass nur im Passagierraum eine sichere Weiterfahrt garantiert sei. Bei der Wahl zwischen ebenso verrücktspielendem Federvieh und kreischenden und sich übergebenden Menschen oder frischer Brise entschieden sich unser Jungsquartett und unsere vier kessen Anhaltinerinnen vom Vorabend für den weiteren Aufenthalt im Freien. Der Kapitän war indes längst im Begriff, zu wenden und wieder Kurs Richtung Landesteg am Hotel zu nehmen. Zumindest war dieser Versuch für uns, die wir das Agieren des Schiffes im Kampf mit den Wellen unmittelbar beobachten konnten, nicht zu übersehen. Doch das Umkehren schien einfacher gesagt, als getan. Einer Nussschale gleich wippte das Boot samt Passagieren von links nach rechts, von vorn nach hinten. Gischt, dieses Gemisch, was in diesem Fall aus sowohl stinkendem Wasser als auch stinkender Luft bestand, kam über Bug, Back- und Steuerbord. Eine ungewollte Dusche, der keiner entrinnen konnte. Wir waren längst die noch einzig verbliebenen ausharrenden Fahrgäste auf dem Oberdeck. Noch einmal ertönte der Kapitän über Lautsprecher, was natürlich niemand von uns verstand. Selbst unser russisch gut sprechende Bernd wusste nicht, was uns der Kapitän aufgeregt mitteilen wollte. Denn inzwischen hatte unter Deck eine Passagierzählung ergeben, dass vier Jungs und vier Mädels fehlten. Nicht, dass schon jemand über Bord gegangen wäre. Doch unser bereits allbekanntes erwähntes Quartett hatte sich hinter einem Rettungsboot verbarrikadiert, blieb in der zweifelsohne für Leib und Leben gefährlichen Lage unentdeckt. Die vier Mädels hatten wir in unsere Mitte genommen. Auf die Frage, ob sie lieber runter wöllten, kann ein einstimmiges „Neeein! Wir bleiben bei euch!“ Das ersparte uns acht den Aufenthalt im von Mensch- und Tier-Geschrei erfüllten und Angst verströmendem müffelndem Unterdeck. So konnten wir sehen, wie die Mannen am Ruder ihr Bestes gaben. Dem Treiben auf dem Meer konnten sie allerdings keinen Einhalt gebieten. Trotzdem kämpften sie in Einheit mit den Motoren ihres Schiffes um ihr eigenes und das Heil der Passagiere. Es schien ein ungleicher Kampf zu sein gegen die gut drei Meter hohen und aus unterschiedlichen Richtungen kommenden Wellen und dem Willen, das Ufer, den Landesteg erreichen zu wollen. Uns draußen Verbliebenen blieb die Hoffnung, dass das Tau, mit dem das Rettungsboot verzurrt war, nicht reißen möge. Dabei wurde der Griff der Mädels um unsere Arme immer kräftiger. Genau wie der unsrige um das Tau.

Blieb die Frage, wie bei diesem Seegang das Anlegen gelingen sollte. Es lag durchaus im möglichen, dass das Schiff einfach an beziehungsweise auf den Strand gedrückt werden könnte. Das wäre dann eine „Bruchstrandung“ geworden. Doch die Crew an den Rudern und den Maschinenhebeln schafften es, das Boot im kreuz und quer tosenden Meer Richtung Landesteg zu bugsieren. Noch fehlten knapp einhundert Meter bis zum Anleger, als sich die ganz großen Wogen schlagartig etwas glätteten, der Himmel vereinzelte Lücken riss durch die es etwas heller wurde. Das Schiff schlickerte nunmehr zum Anleger. Es hatte den Eindruck, als ob es selbst völlig außer Puste sei. Wohl total „ausgeschlickert“ hatte es sich in den Mägen der meisten Passagiere.

Noch immer peitschen Wellen über den sich nicht allzu hoch über die Wasseroberfläche befindlichen aber etwa vierzig Meter ins Meer ragenden Anlegesteg. Eine geordnete seitliche Annäherung an den komplett aus Holz bestehenden Steg war unmöglich. Trotzdem kam das Schiff irgendwie in die gewollte Position. Es gab einen kräftigen Schlag, als es den Steg rammte. Sofort sprangen vier Besatzungsmitglieder von Bord und hatten zu kämpfen, das Schiff festzuzurren. Nun hieß es: Alles von Bord was Beine hat. Mit viel Hilfestellung wurden die Mütterchen, Männer, Hühner und Gänse auf den Steg gelotst. Natürlich auch alle Touris. Unser Quartett konnte sich auszeichnen. Wir liefen mehrmals vom Schiff ans Festland, begleiteten die verständlicherweise ängstlichen alten Frauen und Männer – und die kreischenden Mädchen der beiden deutschen Reisegruppen. Inzwischen hatte es entgegen den sich anfänglich abzeichnenden Wolkenlücken auch noch begonnen, zu regnen. Aus dem anfänglichen Niesel entwickelte sich allerdings schnell ein regelrechtes Draschen, so dass alle in kürzester Zeit bis auf die Knochen pitschnass waren. Die Frauen und Männer wurden zunächst auf die Strandpromenade verbracht und danach aufgrund des immer stärker werdenden Regens samt kräftig wehenden Winds in die umliegenden Hotelfoyers.

Die Devise für uns als Urlauber lautete: Schnell ins Hotel unter die warme Dusche und das Erlebte, den Schock verdauen, sich wortwörtlich des Lebens freuen.

Im Hotel wurden die deprimierten Ureki-Ausflügler schon erwartet. Es gab herzliche Umarmungen. So richtig befand sich niemand in der Lage, Genaueres über Passiertes zu erzählen. Im Foyer lief der Fernseher mit dem georgischen Regionalprogramm. Dabei erregte eine Sondermeldung die Gemüter. Obwohl in Russisch war unverkennbar: Es wurde von einer Naturkatastrophe berichtet. Von einem orkanartigen Sturm war die Rede. Das Schwarze Meer wurde als Karte eingeblendet. Ein Zoom richtete sich auf die Region um Batumi. Pulsierende Kreise folgten im Bereich des Wassers. Jeder Anwesende wollte unbedingt selber etwas zu Inhalt und Umfang der Meldung betragen. Doch Reiner schrie „Ruhe! Haltet die Klappe! Ich will was hören!“ Schließlich hörte das Durcheinander-Geschnatter auf. Selbst das Hotelpersonal stand wie erstarrt vor dem Fernsehgerät. Alle schauten entweder gebannt auf den Bildschirm oder auf Reiner. Dann, als im Fernseher die nächste Nachricht lief, folgte seine Übersetzung: „Tja, wie schon angenommen. Das war ein schwerer Sturm mit Windstärken zwischen sechs und sieben, vermengt mit einem leichten Seebeben. Andere Schiffe hatten nicht so viel Glück. Zwei Fischerboote sind gekentert. Es gibt Tote zu beklagen.“ Tränen flossen ob des glücklichen Umstandes, mit einem Riesenschrecken davon gekommen zu sein, aber auch über die Opfer dieser Naturkatastrophe. Die Bootsausflügler schauten sich an und einer brachte zum Ausdruck, was alle anderen dachten: „Sau! Schwein gehabt! Obwohl es sich bereits so angefühlt hatte – nur gut, dass das kein Orkan war!“

Doch der Spuk hatte noch lange kein Ende.

Mit diesen Nachrichten verzogen sich alle auf ihre Zimmer. Auch ich stellte mich unter die Dusche, wollte vor allem den Gestank vom Schiff und der Gischt loswerden, der sich in meiner Nase festgesetzt hatte. Bernd stand gerade unter der Dusche, als es klopfte. Die „Etagen-Matka“ hielt mir einen Zettel hin. Darauf stand „Abendessen heute schon 17 Uhr“. Das war schon in dreißig Minuten. Ich gab Bernd durch die geschlossene Badtür zu verstehen, „nicht zu weit hinaus zu schwimmen. In einer halben Stunde gibt’s lecker Reis!“ Er lachte. Ich blickte zum Balkon hinaus. Draußen zeigte sich ein immer noch furchterregendes aufgewühltes Meer. Vom Strand war längst nichts mehr zu sehen. Das Meer hatte sich bis an die durchschnittlich knapp zwei Meter höher liegenden und seeseitig gemauerten Promenade herangerobbt. Trockenen Fußes dort entlang zu gehen, war längst nicht mehr im Bereich des Möglichen. Die Gicht fegte meterhoch über das Trottoir. Die Farbe von Himmel und Wasser schien nicht nur am Horizont grenzenlos ineinander übergehen zu wollen. Hinzu kam ein sich längst zu einem Sturm entwickelter Wind. Wurzeln einzelner bereits umgeknickter Bäume ragten aus dem Erdreich. So manche Kleinteile wurden selbst in Höhe unserer zwölften Etage durch die Luft gewirbelt. Scheußlich!

Wieder gesellschaftsfähig trudelten wir gemütlich in den Speisesaal.

Es ginge heute, wegen der äußeren Umstände, etwa spartanischer zu, hieß es von der Dolmetscherin. Das Stromnetz im Ort sei zusammengebrochen. Der Notstrom reiche nun geradeso für diesen Speisesaal und die Zimmer. Das Hotel laufe jetzt „auf Sparflamme“. Vorher habe die Küche noch Strom ziehen können. Passend hieß es: Die Küche hätte eine Art Restekochen machen müssen, weil einige Lieferungen wegen des Unwetters ausgeblieben seien. Wir sollten zum Abendessen auch ausnahmsweise gemeinsam an einer langen Tafel Platz nehmen, etwa vier Meter von der Glasfensterfront Richtung tosendem Meer entfernt. Mit Blick auf das Geschehen draußen erfolgte dies auch mit gehörig Bammel. Den Speisesaal trennten lediglich einige hohe bodentiefe Fenster vom bereits erwähnten kleinen Garten, der das Gebäude von der nur leicht höher liegenden Promenade trennte. Die wurde bereits mehr und mehr von den strandenden Wellen des Meeres überspült. Längst peitschte der Sturm unaufhörlich gegen die Fenster, ließ die von ihm aufgenommene Gischt an ihnen auf- und abprallen und trieb dabei so manche Kleinteile vor sich her, die lautstark an die Fenster klopften.

Die Atmosphäre war schon etwas schaurig. Weit weg von Urlaubsidylle, eher gemacht wie für einen Edgar-Wallace-Streifen. Drinnen ein eher ungemütliches Muschebubu und draußen nicht viel heller.

Die Gruppe hatte an der Tafel Platz genommen. Das Essen – irgendetwas wie Gulasch, irgendwie noch öliger – wurde serviert. Natürlich mit Reis als Beilage. Dazu aus unserer Sicht nicht genau definierbares „Grünzeug“. Auch zu sehr ölig. Mit gewisser Zurückhaltung begannen alle zu essen. Der Hunger trieb es rein. Plötzlich gab es einen mörderischen Knall. Der Sturm hatte einen weiteren Baum gefällt und in die großen Scheiben des Speisesaals verfrachtet. Das Glas war nicht in tausend kleine, sondern einige große Teile zersplittert. Die Krone des Baums lag auf ihnen, direkt am Ende unserer langen Tafel. Regen und Wind drangen sofort in den Raum. Die folgenden Reaktionen am Tisch konnten nicht unterschiedlicher sein. Die wenigsten jungen Damen nahmen die Situation gefasst auf. Der Großteil begann das große Kreischen, das sich wie ein Lauffeuer ausbreitete und immer lauter wurde. Drei waren sofort aufgestanden und vom Tisch geflüchtet. Einige der jungen Männer lachten, anderen blieb während dem sie sich verdutzt anschauten die Spucke weg, schienen in ihrer entsprechenden Pose eingefroren. Nur einer blieb absolut cool. Er saß neben seiner Freundin, die vor lauter Schreck das Besteck hatte fallen lassen und als Erste das Schreien angefangen hatte, sich mehr oder weniger als „Anführerin der kreischenden Weiblichkeit“ ausmachen ließ. Der junge Mann schaute erst zur zerbrochenen Scheibe, dann rund um in die entsetzten und panischen Gesichter an der Tafel. Schließlich legte er in aller Ruhe sein Messer zur Seite und gab seiner rechts von ihm sitzenden Freundin mit der verkehrten Hand einen mehr als lieb gemeinten Klaps auf deren rechte Wange. Dabei sagte er laut und mit energischer Stimme: „Ruhe jetzt! Weiteressen!“ Entsetzt schauten alle auf das Pärchen. In etwas ruhigerem Ton wiederholte der junge Mann: „Ruhe jetzt! Weiteressen!“ Das wirkte Wunder. Schlagartig hörten alle jungen Damen das Kreischen auf. Seine Ansage schien für alle jungen Damen gegolten zu haben, denn alle aßen brav weiter. Selbst die vorher aufgesprungenen nahmen wieder Platz. Es schien auch nicht zu stören, dass sich meersalziges Aerosol im Raum breit machte und das Heulen des Windes und Peitschen des Sturms nun unmittelbar zu vernehmen war.

Mittlerweile war das Hotelpersonal am Wirbeln, den Schaden zu beheben, den Baum in den Vorgarten zu zerren, die Scherben zusammen zu fegen. Die Dolmetscherin und eine Frau von der Rezeption versuchten, die Reisegruppe zu beschwichtigen. „Wir kümmern uns! Esst ruhig weiter!“ Ruhig. Gut gesagt.

Letztendlich waren die Aufforderung des jungen Mannes und die der Dolmetscherin und Hotelangestellten aber umsonst. Allen war der Appetit oder Hunger vergangen. Unser Quartett hatte sich schon verständigt, das Abendessen später in unseren bereits wohl bekannten Kiosk zu verlegen. Doch im Aufstehen setzte es uns alle wieder auf den Allerwertesten. Teller und Gläser auf dem Tisch vollführten ferngesteuert einen Tanz. Die Dolmetscherin und die Hotelangestellte saßen plötzlich mitten im Saal auf dem Hosenboden. Vier im Vorgarten mit dem Baum Beschäftigte standen wankend mit ausgebreiteten Armen, um Balance halten zu können. Die Kronleuchter schwangen wie von Geisterhand bewegt hin und her. Das ohnehin schon schummrige Licht ging schließlich ganz aus. Der Fußboden vibrierte. Das Parkett knarzte und drohte aufzusplittern. Der Untergrund, die Erde bebte.

Diesmal blieb – warum auch immer – das große Kreischen aus. Die Mädels, ob mit Partner oder ohne auf dieser Reise unterwegs – suchten Schutz in den Armen eines Jungen. In diese Lage hinein kam die Hotelangestellte als erste wieder zu klaren Gedanken und rief: „Все вышли!“ (Vsje vyshli! – Alle raus!). Die Dolmetscherin und Reiner riefen nun ebenfalls „Alle raus!“ Logisch, denn bei einem Erdbeben, worauf das Geschehen hindeutete, ist der Aufenthalt in einem Gebäude weitaus gefährlicher, als im freien Gelände. Bis zur Straße waren es etwa vierzig Meter. Dorthin sollten wir uns versammeln. Weitere Hotelgäste kamen hinzu. Alle leicht breitbeinig laufend, das Zittern des Erdbodens in den Knien versuchend abzufedern. Die einen schauten sorgenvoll auf das Gebäude. Andere richteten ihre Blicke auf die Straße. Einige versuchten mit einem rundumblick irgendwie-wo Sicherheit zu erhaschen. Doch der Anblick verdeutlichte das Gegenteil. Holzstrom- und Lichtmasten knickten mit lautem Krachen im Sekundentakt wie Streichhölzer. Es zischte und blitzte. Schräg gegenüber brach ein Holzschuppen zusammen. Schier gleichzeitig war zu sehen, wie das danebenstehende Haus einen Riss diagonal über seine Vorderfront erfuhr. In gut einhundert Meter Entfernung tat sich quer zur Straße ein Spalt auf. Qualm stieg auf. Der gleiche Gestank wie heute Vormittag auf dem Meer machte sich breit. Das Seebeben hatte sich Richtung Festland ausgedehnt, zu einem weiteren Schlag in Form eines Erdbebens ausgeholt.

Das Ganze hatte etwa zehn – niemand hatte die Zeit gestoppt – oder auch fünfzehn Minuten gedauert.

Mittlerweile herrschte Totenstille.

Wirklich absolute Stille.

Der Sturm hatte sich schlagartig gelegt. Im gleichen Augenblick hatte es aufgehört, zu regnen. Der Erdboden bot die gewohnte Festigkeit und Starre. Es hatte den Anschein, als ob jeden Augenblick die Sonne durch die immer noch grauen Wolken schauen wolle.

Fassungslos und sich der Tatsache bewusst werdend, gerade ein Erdbeben er- und überlebt zu haben, befanden sich alle in einer Art Schockstarre. Noch mehr diejenigen, die am Vormittag auf dem Meer schon einmal dem gleichen Schicksal ausgeliefert waren.

Totenstille galt auch für die Tierwelt. Nichts, aber absolut gar nichts war zu vernehmen von den zig sonst den ganzen Tag über zwitschernden Vögeln oder den schreienden Möwen. Das dauerte auch noch an, als die Dolmetscherin und die Frau von der Hotelrezeption eine Ansage machten: „Die Sicherheit in den oberen Etagen ist nicht mehr gegeben. Deswegen müssen die oberen Stockwerke unverzüglich geräumt werden. Alle Gäste aus den Etagen zehn bis dreizehn werden gebeten, umgehend in freie Zimmer der unteren Etagen umzuziehen. Sie werden in vorhandene Appartements aufgeteilt. Die Reisegruppen bleiben soweit es geht zusammen.“ Schluss war’s also mit dem grandiosen Ausblick vom Eckbalkon. Mit bangen Schritten betraten alle wieder das Hotel. Wir zogen wie geheißen von Etage zwölf in Etage acht. Es schien ein heilloses Durcheinander auf den Gängen zu herrschen. Nach gut einer Stunde war Ruhe auf den Fluren eingekehrt – und völlige Verwunderung und Erstaunen, wie die Russen in der kurzen Zeit die neuen Belegungen der Zimmer gemanagt hatten.

Unser Quartett hatte wieder zwei nebeneinanderliegende Zweibettzimmer erwischt. Die Kommunikation war daher schnell und klar: Mal sehen, wie es Wassili in seinem Kiosk geht? Wir machten uns – obwohl für diesen Abend eine Art Ausgangsverbot angeraten wurde – auf den Weg. Umgestürzte Bäume querten diesen, teils waren eingestürzte Häuser zu sehen oder welche mit armdicken Rissen in den Wänden, viele zerwühlte Rasenflächen. Und wir mussten über zahlreiche mehr oder weniger breite Risse auf den Straßen springen, aus denen es gelblich-grün dampfte – Schwefel.

Wassili begrüßte uns herzlich und nahm uns mit, einmal um seinen Kiosk zu gehen, der wie es dem Augenschein nach schien keinen Schaden genommen hatte. Danach zückte er eine Flasche Wodka, um uns jedem ein Sto-Gramm-Glas in die Hand zu drücken, einzuschenken und zu meinen: „Gute deutsche Wertarbeit. Haben die Nazis gebaut. Prost!“ Es gab irgendetwas Fleischiges aus einer Büchse mit einer dicken Scheibe Brot für jeden, Käse und Gurke. „Auf meine deutschen Freunde!“ hob Wassili mehrmals die Flasche Wodka an, trank daraus, um uns anschließend nachzuschenken – und noch eine zweite, dritte und vierte Flasche. Denn inzwischen waren auch seine Dorffreunde anwesend. Bestimmt waren es derer Flaschen auch noch mehr, die auf das schadlose Überleben geleert wurden, als wir längst auf dem Nachhauseweg waren.

Am nächsten Morgen schien die Sonne, als ob nichts gewesen war. Doch der komische Geruch von Schwefel gemischt mit verwesendem Fisch lag noch in der Luft. Der kam vom Strand. Der war nun um ein wesentliches breiter und war übersät mit toten Fischen. Und auffällig viele Leute waren unterwegs. Vor allem viele Armisten. Lastkraftwagen fuhren Trümmer oder Baumaterial hin und her. Den Folgen der Katastrophe wurde der Kampf angesagt.

Später hieß es: Das Beben sei auf der sogenannten Richter-Skala etwa bei Stufe 4 bis 5 einzuordnen gewesen. Dabei sollten eigentlich keine Schäden auftreten. Na ja – anscheinend war die russische Bauweise so mancher Einrichtungen doch nicht so stabil, um dem in dieser Region eigentlich bekannten Problem der tektonischen Verwerfungen angemessen zu sein. Zumindest hatte unser Hotel keine größeren Schäden zu verzeichnen. Strom und Wasser funktionierten wieder einwandfrei.

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