Wie geplant, wollten wir auch in diesem Jahr auf der Heimreise noch einmal in Prag „einreiten“. Auch diesmal legten wir nach dem Rennwochenende in Brno einen Zwischenstopp auf einem abgelegenen Campingplatz an einem kleinen Stausee ein. Damit entzogen wir uns dem großen Rückreise-Tumult. Vor allem aber dem Ansturm in den Prager Gaststätten, vor allem dem U Fleků, das die meisten Ost-Touristen auf ihrem Reiseplan hatten.
Fernab der Autobahn kauften wir vier Hühnchen, frisches Brot, Zwiebeln, Bier und derlei zum Grillen. Zudem war Resteessen angesagt. Nach einem langen Abend gönnten wir uns am Montag eine ordentliche Mütze Schlaf, planschten im Stausee, brachten Ordnung in unser Gefährt, machten Kurzwäsche einiger T-Shirts und sortierten uns für die tschechische Landeshauptstadt.
Dienstag früh ging´s dann Richtung Prag auf das Sportcamp am nördlichen Stadtrand. Es lag zwar in der Einflugschneise des Flugplatzes. Dafür trumpfte es aber mit relativ guten Preisen, einem tollen Sanitärtrakt, einer vor-Ort-Kneipe und, das Allerwichtigste, einer Tram-Haltestelle unmittelbar vor der Tür.
Nachdem die beiden Zelte aufgebaut waren und wir uns in Schale geschmissen hatten – an diesem heißen Sommertag taten dies ein T-Shirt, kurze Hose und die berühmten Jesuslatschen – fuhren wir Richtung City ins U Fleků. Als das leckere Schwarzbier floss, traf das genau die Redensart: Wie, wenn dir ein Engel auf die Seele pinkelt. Wir ließen es viermal ordentlich pinkeln, ehe wir mit der Tram gen Heimat fuhren. Für den nächsten Morgen hatten wir uns ein Stojící Restaurace ausgeguckt, einen Lebensmittelladen mit Stehtisch-Imbiss. Zur Not hätten wir dort Nachschub diverser Konserven oder auch frischen Gemüses kaufen können. Wichtiger war jedoch: Integriert im Laden waren ein Bäcker- und Fleischerstand. Zu einer großen Tasse Kaffee gönnten wir uns frisch zubereitete lecker belegte Weißbrotschnittchen. Kaffee und vier solcher Schnittchen kamen damals umgerechnet knappe vier Ostmark. Was für ein Schmaus. Danach war Sightseeing angesagt. Wir stiefelten Richtung Burg, schlenderten über die Karlsbrücke, machten Halt an der berühmten Rathausuhr und auf dem Altstädter Markt. Anschließend führte uns der Weg zum Wenzelsplatz, speziell in eine bestimmte Querstraße. Unübersehbar hing dort auf blauem Grund ein Eisbär als Ladenschild. Wir bunkerten Konserven, die zu Hause nur als Bückware gehandelt wurden – Dorschleber, Krabbensalate, roter und schwarzer Kaviar… Im Camp angekommen, verstauten wir unsere „Büchsenbeute“ sorgfältig in isolierendem Zeitungspapier und Tüten eingewickelt in einem schon vorbereiteten kühlen Erdloch unter einem unserer beiden Zelte. Wieder hieß es, kurz unter die erfrischende Dusche, sich mit frischem Oberteil in Schale werfen und ab Richtung U Fleků. Dort sollte es an diesem Tag Nachschub der beliebten Anstecknadeln geben, die tags zuvor ausverkauft waren. Besonders beliebt waren dabei die Farben Schwarz und Blau. Ich ergatterte ein rotes und ein grünes mit der darauf abgebildeten Uhr samt im Kreis verlaufenden Namenszug des Lokals.
Wieder wurde es spät. Wieder ließen wir es vier-, fünfmal pinkeln – ehe mich genau dieses Bedürfnis kurz vor dem Nachhausegehen überkam. Es blieb nur wenig Zeit dafür. Nur noch fünf Minuten bis zur Abfahrt der letzten fahrplanmäßigen Straßenbahn. Ich musste rennen, um nicht die Rücklichter zu sehen – und schaffte es auch.
Allerdings in eine Bahn, die zwar die gleiche Liniennummer hatte aber in die vollkommen entgegengesetzte Richtung fuhr. Da ich zunächst meine drei Begleiter suchte, bemerkte ich das Malheur viel zu spät. Irgendwie war ich in den Trubel von Fußballfans geraten. Ich fuhr Richtung Slavia anstelle Richtung Sparta. Also stieg ich an der nächsten Haltestelle aus, um noch irgendwie eine Möglichkeit zu finden, gen Heimat zu gelangen.
Es begann eine Odyssey.
Inzwischen war es nach Mitternacht geworden. Die Straßen waren menschenleer. Ich wusste nur: Ich muss Richtung Norden laufen, über die Moldau, schauen ob ich vielleicht ein Taxi erwische. Kaum gedacht, fuhr zwei Straßen weiter eins um die Ecke, hielt und ließ einen Fahrgast aussteigen. Ich setzte zu einem Sprint an. Aber vergeblich. Aussteigen des Gastes und fortfahren waren eins. Ein wildes Winken und Rufen half nichts. Ich sprach den Fahrgast an, ob er mir helfen könnte. „Take a Taxi!“, meinte dieser. Es schien ein Geschäftsmann zu sein, schick mit Anzug und Krawatte. Und obwohl ich noch über einhundert Kronen bei mir hatte, entgegnete ich. „No money! All pay for pivo in the U Fleků.“ Er grinste, musterte mich von oben bis unten und sagte. „Tourist? DDR?“ „Ja, yes“, antwortete ich, wiegte meinen Kopf hin und her und setzte ein trauriges Lächeln auf. Daraufhin gab mir der Gegenüber seine Aktentasche und seinen Sommermantel zum Halten, holte seine Geldbörse raus und drückte mir einhundertfünfzig Kronen in die Hand. Dann sagte er noch etwas von next Corner und verschwand. Ich ging ein paar Straßen weiter. Nichts zu sehen von einem Taxistand. Es machte sich allerdings ziemlicher druck im Gedärm bemerkbar. Genauso wenig, wie sich kein Taxi im Blickfeld befand, war es eine Toilette. Was tun? Ich erspähte an einem Haus ein Baugerüst samt vorgespannter Plane. Das bot Schutz und sicher die Möglichkeit, mich zu erleichtern. Kaum hingehockt, klopfte es auch schon an die Plane. Ich verstand kein Wort! Das Rufen und Klopfen wurden energischer. Unterm Schlitz der Plane erkannte ich zwei Paar Hosen, die zu einer Uniform passen könnten. Oh, Polizei, schoss es mit durch den Kopf. Tschechische Polizei. Ich sah schon Gummiknüppel auf mich einschlagen. „Ja, ja!“, rief ich, um zumindest irgendwie zu antworten. Aber es war zu diesem Zeitpunkt unmöglich, während des Geschäfts aufzustehen. Auch nicht, unabgeputzt in die Hose zu schlüpfen. Es dauerte also seine Zeit. Noch geistesgegenwärtig in Erwartung einer saftigen Geldstrafe steckte ich meine eigenen und „ergaunerten“ Kronen in die Sportschuhe, die ich an diesem Tag den Römern vorgezogen hatte. Nachdem ich mein Geschäft vollbracht hatte, kroch ich hinter der Plane vor. Tatsächlich erwarteten mich zwei Uniformierte. Sie fluchten auf Tschechisch, packten mich an den Armen und ruckzuck fand ich mich auf einer Wache wieder. Dort holte man einen Deutschkundigen, dem ich mein Vergehen, das Wie und Warum dazu erklären durfte. Auf einem Stadtplan an der Wand zeigte ich den Campingplatz und versuchte mir einzuprägen, wie der günstigste Weg dahin sei. Mittlerweile stand auch die Strafe fest: zweihundert Kronen und das unverzügliche Beseitigen meines „Unglückshaufens“. Ich stülpte meine Taschen um. Sieben Kronen und achtzig Heller kamen zum Vorschein. Alle schauten sich verdutzt an bis sogar ein Lächeln über alle Lippen huschte. „Alles im U Fleků gelassen?“ hinterfragte der deutschkundige Polizist. Bei meinem „Ja“ bekam ich einen Handfeger samt Kehrschaufel und eine Zeitung in die Hand gedrückt. „Aber noch wegmachen!“ hieß die Order, begleitet und beobachtet von einem der Uniformierten, die mich aufgestöbert hatten. Das Päckchen durfte ich dann noch in der Wache auf der Toilette entsorgen, ehe ich wieder in die Nacht entlassen wurde. Den Stadtplan noch in etwa in Erinnerung, strebte ich dem Camp entgegen. Eine Stunde Fußmarsch war das bestimmt noch.
Inzwischen war ich an der Moldau, an der Most-Brücke angelangt. Straßenbahngleise deuteten darauf hin, dass ich eventuell richtig war. Am anderen Ufer hörte ich Musik aus einem Keller-Restaurant. Ein Bierchen zur Stärkung auf den Nachhauseweg wäre jetzt nicht schlecht, dachte ich. Das Etablissement entpuppte sich als Studentenclub. Ich wuselte mich an die Bar durch und fragte nach einem Bier. Schnell kam ich ins Gespräch: Woher, warum in Prag? Um mich herum drei hübsche Tschechen-Mädels. In einem Deutsch-Englisch-Mix berichtete ich auch vom bisher abgelaufenen Abend. Es gab riesiges Gelächter. Helena, ein blonder sportlicher Typ, sagte schließlich, dass sie nach Hause gehe und mir eine Schlafmöglichkeit, aber nur Schlafmöglichkeit betonte sie, geben könne. Ich willigte ein, um am nächsten Morgen ausgeschlafen den Weg in unsere „Stehkneipe“ zu finden. Es ging nur einige Straßen ums Eck als wir schon vor ihrer Haustüre standen. Als sie den Schlüssel im Schloss der Wohnungstür drehte, tauchte ihr Vater auf. Sein Blick verriet kein gutes Omen. Nach einem lautstarken Wortgefecht musste mir Helena die Übernachtung kündigen. Also ging es wieder zurück zum Studentenclub. Dort vernahm ich aus der Ferne das Geräusch einer herannahenden Straßenbahn: Nun hieß es, rechtzeitig die nächste Station zu finden und zu schauen, dass es diesmal auch die richtige Bahn in die richtige Richtung ist. Die Haltestelle war schnell gefunden. Dort sprach ich einen wartenden jungen Mann an. Irgendwie war mir sein Gesicht noch aus dem Studentenclub in Erinnerung. Ich versuchte es erneut mit meinem bereits im Club praktizierten Deutsch-Englisch-Mix: „I want to drive to sportcamp in the north of praha. The arriving tram drive to Sparta?“ Er musterte mich und antwortete: „No, no! Not to Sparta. Nein! You will spent some hours till the morning? You can sleep by me! Du schlafen du wollen bei mich!?“ Wow, was für eine Offerte. Der war doch wohl nicht vom andern Ufer, kam ich kurz leicht ins Grübeln. Auch ich musterte ihn. Er sah ganz passabel, eben normal aus. Als ob man einen Schwulen an der Nasenspitze erkennt, ertappte ich mich. Ich sagte zu. Er löste zwei Fahrscheine. Wir fuhren fünf Stationen. Bei ihm angekommen, machten wir noch etwas Smalltalk, tauschten Adressen aus. Er hieß Pawel, studierte Informatik und war begeisterter Schachspieler. Als morgendliches Ziel gab ich die etwaige Frühstückszeit in „unserem Lebensmittel-Stehlokal“ an. Irgendwann früh klingelte der Wecker. Pawel hatte ein frisches Handtuch parat gelegt. Ich stieg unter die Dusche. Sogar mein T-Shirt war frisch gewaschen und getrocknet. Pawel war demnach Herr eines komplett eingerichteten Single-Haushalts, mit Waschmaschine und Trockner. Ehe es losging, gab´s noch eine Tasse Kaffee. Als 26jähriges Prager Urgestein wusste er sofort, welchen Laden samt Verköstigungsmöglichkeit ich gemeint hatte und setzte mich auch dort nach Bus- und Bahnfahrt ab.
Meine drei Urlaubsbegleiter kamen fast zur gleichen Zeit an. Ehe sie groß zum Fragen kamen, rief ich in die Runde: „Ich geb´ einen aus. Alles wie immer?!“ Schließlich hatte ich einhundertfünfzig Kronen „eingenommen“. Während des Frühstücks erzählte ich dann meine Story der vergangenen Nacht, vom erschwindelten Notgroschen, von der Notdurft und von der Notunterkunft, die sich, weil mit Bett und ordentlicher Morgentoilette, allerdings nicht als solche entpuppt hatte. Die Drei kamen aus dem verdutzt Schauen und Lachen nicht mehr heraus. Auf das wiederholte „Net wahr!“ musste ich mehrmals „Doch, doch!“ antworten.