Auf dem Weg ins Hotel, vollgepackt wie eine Schmuggler-Crew mit Wodka- und Sekt-Flaschen, hatten wir doch einen Verfolger. Einen jungen Burschen. Auf den ersten Blick keiner von den „Wodkabrüdern“. Im Großen und Ganzen etwas zerzaust, löchrige abgewetzte Hosen, ein ihm viel zu großes ebenfalls löchriges Hemd und mit Klebeband zusammengehaltene Sandalen. Er gab das Bild eines aufdringlichen Bettlers ab. Als wir wieder durch den Park mit den vielen Wasserspielen gingen, kam er im Sprint angerannt und rief völlig außer Atem: „Стой! Стой! Пожалуйста! (Stoy! Stoy! Paschalsta! – Stehen bleiben, stehen bleiben, bitte!) Als er uns erreicht hatte, machte er uns sein Anliegen klar. Dabei deutete er immer wieder vor allem auf mich. Bernd fungierte erneut als toller Übersetzer. Bald war klar, warum ich im Mittelpunkt des Geschehens stand. In den Augen des jungen Georgiers erschien ich ihm als am westlichsten Gekleideter. Zunächst schauten wir vier uns alle an, ehe sich alle Augenpaare auf mich richteten. Schließlich lachten wir alle vier, schüttelten mit dem Kopf und Bernd erteilte dem Ansinnen des Burschen eine Absage. Er wollte gegen „gutes Rubel-Geld“ meine gesamte Kleidung, die ich am Körper trug, kaufen. Die Niedergeschlagenheit und Enttäuschung waren ihm deutlich anzusehen. Mit ausgestreckten Armen zeigte er immer wieder auf unsere Hosen, T-Shirts und Jacken. Er und wir standen ob des vorgetragenen Wunsches etwas fassungslos da. Doch dann, nur wenige Gedankengänge und Sekunden später, ging trotzdem noch einer von uns auf seinen Vorschlag ein.
Ich.
Ich fand es lustig, absonderlich, experimentell und aufregend.
Ich bat Bernd, wenn schon dann gleich für tags darauf ein Date zu vereinbaren. Am nächsten Tag machte ich mich, bewaffnet mit einem prall gefüllten Beutel, um kurz vor 10 Uhr auf den Weg. An meiner Seite Bernd, falls es doch noch irgendwas zu dolmetschen gab. Stefan und Reiner folgten ebenfalls in Sichtweite, falls das Geschehen irgendwie unübersichtlich oder gar brenzlich werden könnte. Allerdings ebenso, weil sie neugierig waren und sich die Aktion nicht entgehen lassen wollten. Es waren rund sechs sieben Gehminuten. Als Treffpunkt war der bereits erwähnte Park ausgemacht. 10 Uhr sollte die Aktion über die Bühne gehen. Der junge Mann, Dmitri, war pünktlich. Er sah noch zerzauster aus, als am Vortag. Wahrscheinlich hatte er seine schlechtesten Klamotten auf dem Leib. Wir setzten uns auf eine Bank und ich begann, meinen Beutel zu leeren. Eine etwa drei Jahre alte Jeanshose Marke Wisent, eine ebenso alte jeansähnliche Jacke, meine Botas-Turnschuhe, ein kariertes Hemd und zwei Nickis. Das vom Vortag, weiß mit blauen Möwen, und ein blaues mit adidas-ähnlichen Ärmelstreifen. Dmitris Augen glänzten. Er stieß einen Freudenjauchzer aus, umarmte mich und schien augenblicklich der glücklichste Mensch auf Erden zu sein. Er hielt mir fünf zwanzig-Rubel-Scheine entgegen. Den Preis hatten wir bereits am Vortag ausgehandelt. Bei einem Umtauschkurs zwischen drei oder vier DDR-Mark für einem Rubel hatte ich etwa 400 Mark in der Hand. Die Botas kamen einmal um die fünfunddreißig Mark, die Wisent ungefähr sechzig, die T-Shirts waren aus Ungarn und eigentlich auch schon abgetragen. Unterm Strich bedeutete das ein Supergeschäft.
Dann schaute er sich schüchtern um, riss sich das T-Shirt vom Leib, streifte sich die Sandalen – das waren die vom Vortag mit Klebeband drapierten – von den Füßen, strampelte die völlig verschmutzte Jogging-Hose herunter, holte ein Deo aus dieser, begann sich „einzudieseln“ und schlüpfte in Windeseile in die von mir mitgebrachten, nun von ihm gekauften Kleidungsstücke. Seinem Gemüt zu folgen war klar: Ab sofort ist er der coolst angezogene junge Mann im Ort. Und anscheinend auch einer der schnellsten. Denn kaum umgekleidet sprintete er davon.
„Wow, da wär´ jeder Jud´ auf dich stolz gewesen, wie den armen Dmitri übern Tisch, besser gesagt Parkbank gezogen hast“, meinte Stefan beim Näherkommen etwas spöttisch und teils neidisch. „Du hättest dich doch am Geschäft beteiligen können“, antwortete ich und verwies auf seine adidas-Turnschuhe. „So weit schießen die Preußen dann wohl doch nicht. Außerdem will ich ja nicht nackig nach Hause fliegen“, schwang nun etwas Ironie in seiner Stimme mit. Denn ganz unrecht hatte er ja nicht. Schließlich hatte ich nun nur noch eine Boxer-Jeans im Gepäck, eine kurze Hose, zwei T-Shirts, ein dünnes und ein dickeres Hemd und (weil „weltgereist“ und Campingerfahren) Waschmittel in der Tube, sogenannte Volleyball-Schuhe (die einen Tag vor Abreise ihr Zeitliches segneten), einige Paar Socken und Slips sowie Römerlatschen. Das musste für die restlichen vier Tage reichen.
Das Geld wurde selbstverständlich nicht in „typisch sowjetische“ Dinge umgesetzt. Nicht in „Jedermann-Souvenirs“ wie Matroschkas oder bunt bemalte Holzlöffel. Nein eher in sowjetische Sachen, die es in der sowjetisch besetzten Zone nicht oder nur teuer gab: Einen 585er 14-karätigen Goldring mit drei kleinen Achat-Steinen (man weiß ja nie, welche Dame irgendwann mal damit bezirzt werden kann), einen 4000-Watt-Heizlüfter mit zwei separat schaltbaren Heizstäben (die AKA-electric-Plaste-Lüfter hatten nur 2000 Watt und gingen alle Furz kaputt), eine verdammt schwere schlicht verzierte Dose mit Deckel aus goldähnlicher Legierung und einen einfarbigen taubengraublauen Kosakenpullover. Schließlich hatte ich meine Jeansjacke verhökert und der 2. November als Rückreisedatum… da könnt’s auch schon mal kalt sein. Und wen wunderte es: Als ich wieder zu Hause auf dem Bahnhofsvorplatz gegen 22 Uhr auf ein Taxi wartete, lagen gut fünf Zentimeter Schnee, tat der Pullover gute Dienste. Die Jesuslatschen waren allerdings das unpassendste Schuhwerk. Gegen die kalten Füße halfen dann lediglich drei übereinander gezogene Paar Socken.