Wie bereits erwähnt: Der 14-Tage-Urlaub in Kobuleti hatte so Einiges sowohl an Turbulentem als auch Touristischem zu bieten. So auch einen Tagesausflug in den Mtirala-Nationalpark. Trotz vorheriger Buchung hätte vor Ort noch abgesagt werden können. Zudem die Reiseleiterin am Vorabend eindringlich darauf hinwies: „Das ist nichts für Weicheier! Es gibt kein Umkehren! Die Anforderungen muss jeder absolvieren!“ Immerhin las sich das Tagesprogramm absolut vielversprechend und irgendwie waghalsig. Resümierend waren die Angaben sehr real: Wandern durch Wald und Flur mit Blick auf und Übergehen eines imposanten Wasserfalls auf seiner etwa eineinhalb Meter breiten Kammlinie, kurzer Aufenthalt an einem Gebirgssee in gut 1000 Meter Höhe – was einige, wie ich auch, für einen kühnen Sprung ins eiskalte Wasser nutzten – und der absolute Nervenkitzel: das Überqueren einer Schaukelbrücke über einen etwa 25 Meter breiten reißenden Gebirgsfluss in nur knapp fünf Meter Höhe.
Letztlich sagten sieben Mitglieder unserer Reisgruppe, denen das zu absolvierende Programm doch zu strapaziös zu sein schien, am Morgen noch ab. Und das war – aus doppelter Hinsicht – gut so. Zum einen stießen aus einer anderen Reisegruppe aus Halle an der Saale ausgerechnet acht schmissige und kesse, sich aller Umstände des Ausfluges bewusste Mädels dazu. Was für ein Ersatz im Vergleich zu unseren „Sticknadel-Typinnen“. Zum anderen entpuppte sich die angekündigte Schaukelbrücke als genau die Herausforderung, als die sie beschrieben wurde. Mit einer links- und rechtsseitigen Amplitude von etwa fünfzig Zentimetern über darunter tosenden Wassermassen war sie ein absolutes Abenteuer. Dabei durften sich jeweils nur zwei Personen auf der Brücke befinden. Da drohte das Große-aber-nicht-mögliche-Umkehren-Wollen, weil einigen jungen Damen (und auch zwei männlichen Weicheiern) unserer Reisegruppe absolut die Muffe ging. Aber wir Kavaliere unter den Beteiligten und zwei Mädels der anderen Reisegruppe haben die Verängstigten an die Hand genommen und sicher ans andere Ufer gebracht. Wow, viermal hin und zurück. Das war zweifelsohne rasender Puls pur.
Anschließend ging es Richtung Batumi. Als „DDR-Südfrucht-Abstinenzler“ gingen jedem sowohl Augen und Herz über. Inmitten einer ohnehin schon geradezu dramatisch schönen Landschaft schlenderte die Reisegruppe mitten durch einen ähnlich einer riesigen Obststreuwiese angelegten Mandarinen-Hain mit sogar vereinzelten Orangen-Bäumen. Lina, die deutschsprachige georgische Reiseleiterin, mahnte: „Bitte nichts Pflücken. Die Pächter werden sonst arg böse!“ Allerdings wirkte diese Mahnung eher als Herausforderung – zumindest für das im vorangegangenen Kapitel erwähnte Jungs-Quartett. Das auch für uns vier früh ausgegebene Wegproviant war inzwischen aufgebraucht. Mein Jägerrucksack baumelte sozusagen sinnlos auf meinem Rücken. Gleiches galt für Bernd seine original NVA-Gasmaskentasche. Beide warteten regelrecht, befüllt zu werden. Ein kurzer Blick zwischen uns Vieren genügte und das Vorhaben war klar. Zunächst ließen wir uns ans Ende der Gruppe zurückfallen. Mit einem kurzen Sprung waren wir zwischen den Bäumen verschwunden. Ich schnallte den Rucksack ab und setzte ihn weit geöffnet zwischen vier Bäume. Gleiches tat Bernd mit seiner Umhängetasche. Wieselflink ernteten wir, was die Hände schafften. Schneller als gedacht, war der Rucksack und die Tasche voll. In unserer euphorischen Begeisterung des bis dato ungestörten überschwänglichen Erntens der für uns so seltenen Früchte suchten wir nach weiteren Transportmöglichkeiten. Was tun? Es fehlte an weiteren Behältnissen. Aber DDRler sind erfinderisch. Jacken und Pullover wurden umfunktioniert, mit zugeknoteten Ärmeln zu Säcken. Zum Schluss stopften wir noch unsere Taschen in den Kleidungsstücken voll.
Derweil die Reiseleiterin interessant den hier vorhandenen seltenen Baumwuchs erklärte, fiel ihr auch das Fehlen von vier Hanseln auf. Sie erspähte uns inmitten der Mandarinen-Bäume und rief: „Macht das nicht! Kommt zurück! Die Haine werden bewacht, da gibt’s Ärger!“ Kaum gesagt und vernommen, hörten wir es knallen. Kräftig knallen! Das klang nach Abfeuern eines Gewehrs! Richtig. Es waren die Schrotflinten von zwei fluchenden Alten. Gott sei Dank waren es wohl nur Warnschüsse in die Luft gewesen. Die beiden waren im Nachladen und kamen, längst nicht so geschwind unterwegs wie wir, aber doch gezielt auf uns zu. Trotzdem hieß es jetzt, die Beine in die Hand zu nehmen, so schnell als möglich stiften zu gehen. Rucksack, Tasche und Behelfstüten aufgeschultert, sprinteten wir ähnlich einem Hasen zwischen den Bäumen Haken schlagend im Zickzack über die sich nicht gerade als Tartanbahn erweisende Wiese davon. Auch wenn niemand mit der Stoppuhr zugegen war – Carl Lewis wäre stolz auf uns gewesen. Allerdings verloren wir auf der Flucht so einige Mandarinen, die wir habgierig zuvor noch in unseren Hosentaschen verstaut hatten. Dessen ungeachtet war die Beute letztendlich schier unermesslich.
Die Seltene-Baum-Exkursion unserer Reiseleiterin war längst abgebrochen. Die gesamte Gruppe war aufgefordert, besser auch flotten Schrittes das Weite zu suchen. Die beiden Verfolger hatten noch jeder zweimal in die Luft geschossen und das Hinterherlaufen aufgegeben, so dass wir uns mit gehörigem Abstand in Sicherheit wiegen konnten. Als wir vier die Gruppe wieder eingeholt hatten, reckten sich uns ein paar bettelnde Hände entgegen. „Ist euer Arsch dem Schrot entgangen oder unserer!“, meinte Bernd. „Ihr könnt ja nochmal zurück und euch selber welche holen!“, stimmte Stefan in selbige ‚Abfuhr´ ein. Ich zuckte mit den Achseln und grinste. Reiner hielt seine verknotete und mit Mandarinen prall gefüllte Jacke vor seinen Bauch und prahlte: „Mmh, alles meine! Selber essen macht fett!“ Damit war alles gesagt. Auch vom Rest der Ausflügler. „Arschlöcher!“ war das meiste gebrauchte Kompliment für unsere Aktion. Aber noch hatte die Reiseleiterin nicht ihren Kommentar abgegeben. Es ging inzwischen durch einen Wald Richtung Park- und Rastplatz an einer Art Fernstraße. „Nicht dass sie auf die Idee kommt, wir sollen die Früchte wieder zurückbringen“, meinte Reiner. „Dazu sind wir schon zu weit weg“, sagte Bernd. Da stand Lina auch schon vor uns. Ihr Blick ging zunächst auf unsere Mandarinen gefüllten Behältnisse. Schließlich war es ein vorwurfsvoller Blick in unsere Gesichter. Dann – ein Lächeln huschte über die Lippen und es folgte kopfschüttelnd ein: „Ihr Verrückten, ihr!“
Abends gab’s „Mandarinen-Schnell-Bowle“ mit von uns geladenen Gästen. Darunter vier der mutigen Mädchen der anderen Reisegruppe und natürlich Lina. Sie war erneut Reiseleiterin einer Tour am folgenden Tag und übernachtete deshalb in unserem Hotel. Wodka und Sekt für die Bowle waren vom Einkaufstrip von vor Tagen in den „Dorf-Konsum“ noch genügend vorhanden. Na und Früchte hatten wir en masse. Als wir alle irgendwie gemütlich auf unserem Balkon Platz gefunden hatten, wir um den tollen Blick auf das Meer beneidet wurden, hämmerte es plötzlich gewaltig an die Zimmertüre. Es war die „Etagen-Matka“. (Auf jeder Etage gab es tagsüber eine Bedienstete, die vor allem ab 20 Uhr für Ruhe und Ordnung zu sorgen hatte.) Sie wolle Lina sprechen. Nach einem kurzen Wortwechsel der beiden kam Lina zurück. „Der Pförtner hat Alarm gegeben. Los! Los! Alle abhauen! Geht auf eure Zimmer! Aber leise!“ Sie scheuchte alle aus unserem Zimmer. Mahnend hielt sie dabei ihren Zeigefinger vor den Mund, um auf absolute Ruhe hinzuweisen. Das Wichtigste sagte Lina aber zu uns verbliebenen Jungs: „Alle herumliegenden Mandarinen mitnehmen! Ich trag die Bowle.“ Wir verzogen uns auf die Dachterrasse. Die Matka hatte Lina einen Schlüssel dafür mitgegeben. So konnte sie die Tür zum Treppenhaus verschließen. Wenig später war die Miliz auf dem Gang im zwölften Geschoss. Vier Mann, drei Uniformierte und ein Dolmetscher. Irgendwer hatte uns angeschissen. Wie die Matka später Lina erzählte, soll eine Gruppe Deutscher, die im Hotel XYZ untergebracht sei, im Mandarinen-Hain des Schutzgebietes geräubert haben. Das konnten laut Tagesplan nur wir gewesen sein. Die Matka klopfte fast an jede Zimmertür unserer Etage. Der Dolmetscher gab sein Bestes. Wie die Matka weiter berichtete, sollen Mädels aus zwei ganz bestimmten Zimmern angeblich genau gewusst haben, wo die Diebe wohnen. Es waren diejenigen beleidigten Schnepfen, die nach unserem Diebesgut gebettelt hatten aber leer ausgegangen und logischerweise nicht zur Mandarinen-Bowle-Party eingeladen waren. Aber dank der Aussage „unserer“ Matka waren „die ganzen Jungs noch gar nicht im Hotel, nach dem Ausflug noch gar nicht gesehen worden.“ Na ja – irgendwie hatte sie damit nicht einmal gelogen. Wir waren eben nur ein paar Etagen weiter oben, auf der Dachterrasse. Dorthin fanden später auch die vier Anhaltinerinnen. gemeinsam ließen wir dann die Nacht ausklingen.
Das war der vorletzte Abend am Schwarzen Meer. Am Abreisetag hatte ich noch so viele Mandarinen und Sekt. Die wollten untergebracht sein. Gut, dass ich durch den Klamottentausch Platz im Rucksack gewonnen hatte.
Übrigens: Der Kobuleti-Urlaub war Ende Oktober 1986. In dem Herbst, in dem sich so mancher in Deutschland, eben auch in Westsachsen und dem Vogtland, bei der Obsternte über einen besonders reichen Ertrag und zudem abnormal große Früchte freute. Speziell die Schwammerlsucher frohlockten ob der Riesenexemplare von Wiesen- und Wald-Champignons, Maronen, Trichterlingen und dem beliebten Hallimasch. ,Zu verdanken´ war dies dem Reaktorunfall im ukrainischen Tschernobyl im April selbigen Jahres. Die Explosion eines Reaktors und der daraus folgende Brand samt radioaktiver Staubwolke sowie der dadurch erfolgten Windverfrachtung auch in viele Länder Westeuropas waren Grund dafür.
Die voran erwähnten tollen Erträge wurden in den Jahren darauf nicht wieder erreicht.
Und: Auch wenn die Medien in der DDR absolut staatstreu waren. Irgendwie wäre trotzdem bekannt geworden, wenn sich irgendwo eine Person nach dem Verzehr dieser Monsterfrüchte über irgendwelche darauf zurückzuführenden gesundheitlichen Folgen beklagt hätte oder gar daran verstorben wäre. Gleiches galt insbesondere für Bayern.
Das damals freigesetzte langlebige Cäsium 137 hat eine Halbwertszeit von etwa dreißig Jahren und hat sich zumindest in unseren heimischen Gefilden längst verflüchtigt.
Noch ein weiteres Phänomen bleibt mit Bezug auf den 86er Kobuleti-Urlaub unerklärlich: Ein sich im Oktober ereignetes See- und Erdbeben in dieser Region findet sich in keiner Statistik.
